- Es ist paradox, eine Nation, einen Staat aufbauen zu wollen, nachdem man ihn selber zerstört hat. Das gilt für Afghanistan, aber auch für den Irak oder Libyen. Damit wurde Freiraum geschaffenen für die darunter liegenden Machtstrukturen, die – teils feudal, teils archaisch – von Familienclans mit eigener Miliz, von Stammesstrukturen, dem Klerus (Mullahs), von ethnischen Spaltungen bestimmt sind. Eine fragmentierte Gesellschaft bleibt zurück. Und damit Gewalt und Chaos. Wenn man dann auch noch mit Warlords, die das Kriegshandwerk beherrschen und mit Korruption bestens vertraut sind, paktiert, dann muss das schief gehen.
- Wenn ich andere Nationen/Gesellschaften Mores lehren will, also was Recht und Gesetz, Menschenrechte, Humanität bedeuten, dann muss ich mich selber an diese Grundsätze halten (gilt auch für die Asyl- und Flüchtlingspolitik). Aber nach den großen Versprechungen über die lichte Zukunft Afghanistans kamen Guantanamo, CIA-Geheimgefängnisse, der völkerrechtswidrige Überfall auf den Irak, Abu Ghraib, gezielte Tötungen mit bewaffneten Drohnen. Dies alles stand den eigenen Wertvorstellungen und internationalem Recht diametral gegenüber. Also gilt: Wenn es um Demokratie und Menschenrechte geht, vor allem bei uns selber anfangen!
- Nach Afghanistan ist eine exorbitante Summe Geld geflossen. In den USA allein geht man von einem Betrag von weit über 2 Billionen Dollar aus. Manche Quellen sprechen gar von weiteren Billionen. Zieht man aber davon die Aufwendungen für den Militäreinsatz ab, das Geld, das über Korruption abgezweigt wurde und schließlich den Rückfluss dieser Mittel an westliche Firmen und Einrichtungen (also Rechtsberater, Regierungs- und Wirtschaftsexperten, aber auch große Entwicklungs-NGOs) dann ist der Input eher gering ausgefallen. Laut NZZ vom 23.08. wurden nur 3,7 Prozent der Mittel für Wiederaufbau und Entwicklung im eigentlichen Sinne aufgewandt. (darunter ziemlich erfolgreich die Investitionen in das Bildungswesen, die rühmliche Ausnahme also.) Diese militärfixierte Politik ist offenkundig ein Irrweg. Wenn man Ländern des Südens, in denen die bewaffneten Konflikte stattfinden, wirklich helfen will, müssten die Prioritäten umgedreht werden. Und es muss um Konzepte gehen, die die eigenständige Entwicklung fördern, statt immer wieder Abhängigkeiten zu schaffen.
Ich habe nach dem Desaster am Hindukusch noch einmal in alten Reiseberichten geblättert – ich war zwischen 2006 und 2013 zehn Mal in Afghanistan. Darin habe ich im Grundsatz die oben nachzulesenden Auffassungen auch zu Papier gebracht und ein Scheitern der Mission (bspw. 2010) sehr exakt prognostiziert.
- Näheres kann man beispielsweise meinem > Reisebericht aus dem Jahre 2010 entnehmen.
- Ich füge auch gerne einen > Text aus dem Jahre 2013 an, in dem der Journalist Jerry Sommer und ich gefordert haben, unverzüglich Verhandlungen mit den Taliban über eine Friedenslösung aufzunehmen. Das war damals noch sehr umstritten; die Interventions-Befürworter waren eher skeptisch. Auch diese Vorschläge wurden daher nicht aufgegriffen.
Es ist schon sehr merkwürdig, wenn jetzt diejenigen, die immer wieder hinter diesem Bundeswehreinsatz standen, verlautbaren lassen, man habe das schmähliche Ende nicht wissen können. Die Wahrheit ist: Kritik wollte man nicht hören.
Umso dringlicher ist es nun, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Was man diesbezüglich von der NATO aus Brüssel hört, stimmt nicht hoffnungsvoll.
Paul Schäfer, im September 2021